Reelle Zahlen

Motivation

Die reellen Zahlen sind die Zahlen, die wir normalerweise verwenden, um kontinuierliche Phänomene zu beschreiben. Sie entspringen dem Wunsch, alle für das Messen notwendige Zahlen verfügbar zu haben. Bereits im antiken Griechenland war bekannt, dass die rationalen Zahlen (Bruchzahlen) hierfür nicht ausreichen (wenn auch der Begriff "rationale Zahl" damals noch nicht existierte). Um zu den reellen Zahlen zu kommen, muss man den rationalen Zahlen neuartige, irrationale Zahlen hinzufügen. 

 

Das Standardbeispiel, um die Erweiterung der rationalen Zahlen zu motivieren, ist die Diagonalenlänge des Einheitsquadrats. Nach dem Satz des Pythagoras muss sie zum Quadrat 2 ergeben, und das gilt für keine rationale Zahl. Wenn es eine neuartige, irrationale Zahl mit dieser Eigenschaft gäbe, würden wir sie die Wurzel aus 2 nennen (so wie wir 3 die Wurzel aus 9 nennen, weil 3 zum Quadrat 9 ergibt). Aber gibt es eine solche Zahl? Auf der positiven Seite der Zahlengeraden kann man problemlos den Punkt konstruieren, der um diese Länge von 0 entfernt ist und an dem man die neue Zahl ansiedeln würde. Die rationalen Zahlen kommen diesem Punkt beliebig nahe, aber sie erreichen ihn nicht. Kann man nun einfach fordern, dass dort eine neue Zahl, eine irrationale Zahl liegen soll? Und wenn ja, wo liegen sonst noch irrationale Zahlen?

 

Was irrationale Zahlen eigentlich sind und welche es gibt, blieb lange im Unklaren, obwohl man schon viele Jahrhunderte vor einer präzisen Definition dieser Zahlen mit Wurzelausdrücken rechnete.

Definition der reellen Zahlen

Im 19. Jahrhundert machten Cantor, Dedekind und Weierstraß mit Hilfe der neu begründeten Mengenlehre aus der Not eine Tugend und erhoben das "beliebig genaue Annähern" durch rationale Zahlen zum Definitionsprinzip für irrationale Zahlen. Cantor benutzte dazu Fundamentalfolgen, Dedekind Schnitte und Weierstraß Intervallschachtelungen. Ich stelle hier Dedekinds Weg genauer vor.

 

Ein Schnitt in Q ist eine Zerlegung von Q in einen unteren Teil (Unterklasse) und einen oberen Teil (Oberklasse), also so, dass jede Zahl in der Unterklasse kleiner ist als jede Zahl in der Oberklasse. Außerdem dürfen beide Teile nicht die leere Menge sein. 

Ausgangspunkt für Dedekinds Vorschlag war folgende Überlegung: Ein beliebiger (zum Beispiel geometrisch konstruierter) Punkt auf der Zahlengeraden, an dem keine rationale Zahl liegt, zerschneidet Q in eine Unterklasse mit "zu kleinen" Zahlen und eine Oberklasse mit "zu großen" Zahlen. Da beide Klassen dem Punkt beliebig nahe kommen, ohne ihn zu erreichen, gibt es in der Unterklasse keine größte Zahl und in der Oberklasse keine kleinste Zahl. Der Punkt liegt zwischen beiden Klassen und wird durch diese eindeutig bestimmt.

 

Der letzte Halbsatz (dass die beiden Klassen den Punkt eindeutig bestimmen), ist genau genommen keine Folgerung, sondern eine Festlegung. Sie wird damit begründet, dass zwei verschiedene Punkte, nicht unendlich nahe beieinander liegen können, was sie aber müssten, wenn sie beide zwischen Unter- und Oberklasse lägen. Diese Auffassung findet sich bereits in der antiken Größenlehre des Eudoxos und ist auch heute noch Standard. Wir wissen zwar seit den 1960er-Jahren, dass eine "Nicht-Standard-Analysis" unter Einbeziehung unendlich kleiner (und unendlich großer) Zahlen ebenfalls möglich ist. Sie gilt aber immer noch als "exotisch".


Bei der Definition der reellen Zahlen im 19. Jahrhundert stellte man sich jedenfalls auf den klassischen Standpunkt und beschloss, auf unendlich kleine und unendlich große Zahlen zu verzichten (während man in den beiden Jahrhunderten zuvor in der von Newton und Leibniz begründeten "Infinitesimalrechnung" relativ ungeniert und intuitiv, aber ohne wirkliche Grundlage mit unendlich kleinen Zahlen gerechnet hatte).

 

Dedekinds Vorschlag war, dass jeder Schnitt in Q, bei dem die Unterklasse keine größte und die Oberklasse keine kleinste Zahl enthält, genau eine irrationale Zahl definieren soll. Diese liegt dann auf der Zahlengeraden genau zwischen den beiden Klassen.

Um eine einheitliche Definition für alle reellen Zahlen zu haben, ordnet man den rationalen Zahlen ebenfalls einen Schnitt in Q zu, nämlich denjenigen, bei der die rationale Zahl, um die es geht, die kleinste Zahl der Oberklasse ist. Die Unterklasse enthält dann wieder keine größte Zahl. 

Damit kann man die reellen Zahlen eins zu eins denjenigen Schnitten in Q zuordnen, bei denen die Unterklasse keine größte Zahl enthält. Diese Schnitte heißen Dedekind'sche Schnitte.

 

Da jeder Dedekind'sche Schnitt bereits durch seine Unterklasse eindeutig bestimmt ist (die Oberklasse ist dann zwangsläufig die Komplementärmenge, also die Menge der restlichen rationalen Zahlen), kann man die reellen Zahlen allein durch die Unterklassen definieren. Man beschließt einfach, dass reelle Zahlen bestimmte unendliche Mengen rationaler Zahlen sind, nämlich Unterklassen Dedekind'scher Schnitte. 

 

Ob eine Teilmenge U von Q die Unterklasse eines Dedekind'schen Schnitts und somit definitionsgemäß eine reelle Zahl ist, kann man an folgenden Eigenschaften festmachen: 

  1. U ist nicht die leere Menge und nicht die gesamte Menge Q
  2. Jede Zahl aus U ist kleiner als jede Zahl aus der Komplementärmenge Q ohne U
  3. In U gibt es keine größte Zahl

Für jemanden, der nicht mit Mengenlehre vertraut ist, ist die oben angegebene Definition der reellen Zahlen sicher sehr ungewohnt, denn normalerweise stellen wir uns unter Zahlen keine Mengen vor. Aber bei den reellen Zahlen haben wir im Prinzip keine andere Wahl, denn jede irrationale Zahl trägt bereits das aktual Unendliche in sich. Man kann sie nur durch eine unendliche Menge rationaler Zahlen eindeutig bestimmen. Der Einfachheit halber kann man sie dann auch durch solche Mengen definieren.

 

Um die Menge R aller reellen Zahlen zu bilden, braucht man das Potenzmengenaxiom, denn jede einzelne reelle Zahl ist eine Teilmenge von Q und R daher eine Teilmenge der Potenzmenge von Q. Georg Cantor hat gezeigt, dass R eine überabzählbare Menge ist.

Folgerungen

Mit der mengentheoretischen Definition der reellen Zahlen kann man nun – ebenfalls mengentheoretisch – definieren, wie man mit reellen Zahlen rechnet und wie man sie der Größe nach vergleicht. Dabei stellt man fest, dass im wesentlichen die gleichen Regeln gelten wie für rationale Zahlen, zum Beispiel x+y=y+x (allgemein: Es gelten die Körperaxiome und die Anordnungsaxiome sowie das archimedische Axiom).


Am wichtigsten für die Analysis (die sich mit Grenzwerten befasst) ist aber eine Eigenschaft der reellen Zahlen, welche die rationalen Zahlen nicht haben: die Vollständigkeit. Sie bedeutet, dass es zu jeder unendlichen Folge reeller Zahlen, die sich schließlich auf einen beliebig schmalen Bereich zusammenzieht, eine reelle Zahl gibt, dem die Folgenglieder schließlich beliebig nahe kommen: den Grenzwert der Folge. Eine analoge Aussage gilt für die rationalen Zahlen nicht: Eine unendliche Folge rationaler Zahlen kann sich durchaus auf einen beliebig schmalen Bereich zusammenziehen, ohne einen rationalen Grenzwert zu haben (nämlich genau dann, wenn der Grenzwert irrational ist). Die rationalen Zahlen sind also nicht vollständig.

 

Eine Folgerung aus der Vollständigkeit der reellen Zahlen ist, dass jeder unendliche Dezimalbruch einen reellen Grenzwert hat, wobei verschiedene unendliche Dezimalbrüche auch verschiedene Grenzwerte haben. Außerdem ergibt sich, dass unendliche Dezimalbrüche mit der Periode 9 einen endlichen Dezimalbruch als Grenzwert haben. So ist zum Beispiel ist der Grenzwert von 0,999... gleich 1.

 

Auch wenn es spitzfindig klingt: Man muss unterscheiden zwischen der unendlichen Dezimalbruchfolge 0,999... (also der unendlichen Folge endlicher Dezimalbrüche, die entsteht, wenn man immer mehr Neunen anhängt) und dem Grenzwert dieser Folge. Meint man mit 0,999... die Dezimalbruchfolge, also – etwas deutlicher geschrieben – (0,9; 0,99; 0,999; ...), dann sagt man: 0,999... hat den Grenzwert 1. Meint man dagegen mit 0,999... bereits den Grenzwert der Dezimalbruchfolge (was eine übliche Konvention ist), dann kann man schreiben: 0,999...=1. Es ist eine vereinbarte Schreibweise für die Grenzwertaussage. Analoges gilt natürlich für alle anderen unendlichen Dezimalbrüche.

 

Umgekehrt kann man zeigen, dass jede reelle Zahl (außer 0) eine unendliche Dezimalbruchentwicklung hat, also Grenzwert eines unendlichen Dezimalbruchs ist: Ist eine (positive) reelle Zahl durch einen Dedekind'schen Schnitt gegeben, wählt man jede Nachkommastelle so, das der bis dahin ausgeschriebene Dezimalbruch gerade noch in der Unterklasse liegt. Dann nähert sich die Dezimalbruchfolge der vorgegebenen reellen Zahl beliebig gut an. Die reelle Zahl ist also der Grenzwert der Dezimalbruchfolge. Bei negativen Zahlen entwickelt man den (positiven) Betrag der Zahl in einen Dezimalbruch und kehrt anschließend das Vorzeichen wieder um.

 

Die Vollständigkeit der reellen Zahlen ist für die Analysis deswegen so wichtig, weil viele zentrale Begriffe der Analysis wie Stetigkeit, Ableitung und Integral über Grenzwerte definiert werden und diese Begriffe wiederum für die Behandlung kontinuierlicher Phänomene wichtig sind. Der Begriff "Vollständigkeit" ist allerdings insofern etwas irreführend, als dass er nicht bedeutet, dass man den reellen Zahlen keine neuen Zahlen mehr hinzufügen könnte (das ist durchaus möglich), sondern nur, dass die reellen Zahlen in Bezug auf die Grenzwertbildung abgeschlossen sind.

Axiomatisierung

Man kann auch auf eine explizite Definition der reellen Zahlen verzichten und sie stattdessen axiomatisch einführen. Dann sagt man nicht, was reelle Zahlen sind, sondern nur, welche Axiome (Grundaussagen) in der Theorie der reellen Zahlen gelten sollen (Körperaxiome, Anordnungsaxiome, archimedisches Axiom, Vollständigkeitsaxiom). Dieser Weg wird üblicherweise in den universitären Anfängervorlesungen beschritten. Die wie oben mengentheoretisch definierten reellen Zahlen sind dann ein Modell dieser Theorie. Allerdings lässt sich das Vollständigkeitsaxiom in einer Sprache der Prädikatenlogik erster Stufe (die wegen vieler Vorteile vorzugsweise genutzt wird) nicht direkt formalisieren. Axiomatisierungen auf der ersten Stufe erlauben immer auch Nicht-Standard-Modelle mit ungewohnten Eigenschaften, zum Beispiel der, dass unendlich kleine und unendlich große Zahlen existieren.