Was bisher geschah


Das Prequel zum "Untergang von Mathemagika"


Im Anfang war das Wort ...

Und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Wo aber war die Zahl? War sie mit dem Wort, kam sie später dazu oder war sie vielleicht doch schon vorher da? Ist alles Zahl oder sind alle Zahlen am Ende nichts? Ist die Welt mathematisch oder die Mathematik weltlich? Ist Mathematik Natur oder Kultur, wird sie entdeckt oder erfunden?


Fest steht: Alle höheren Kulturen brachten Mathematik hervor, und zwar zuerst aus ganz praktischen Gründen. Wer Vieh züchtete, Land bestellte, Häuser baute, Handel trieb oder Besitz verwaltete, musste zählen und messen, was früher oder später zu den mathematischen Urdisziplinen Arithmetik und Geometrie führte.


Messen schien zunächst nichts anderes, als das Zählen von Einheiten zu sein. Je feiner die Einheit gewählt wurde, desto genauer konnte man messen. Die Pythagoreer im antiken Griechenland erkannten jedoch, dass hier ein prinzipielles Problem bestand. So war es zum Beispiel unmöglich, eine Längeneinheit zu finden, als deren Vielfache sich sowohl Diagonale als auch Seite eines Quadrates angeben ließen. Beide Größen hatten "kein gemeinsames Maß", wie man sagte. Damit konnte das Längenverhältnis von Diagonale und Seite nicht als Zahlenverhältnis, wie etwa 3 zu 2, angegeben werden. Zwischen Arithmetik und Geometrie klaffte eine unüberwindlich scheinende Lücke.

Diese Lücke wurde im 19. Jahrhundert auf radikale Weise geschlossen. Die Gerade, das lineare Kontinuum, musste dazu zur Punktmenge werden, die Punkte mussten zu Zahlen werden und die Zahlen schließlich zu Mengen. Die Forderung lautete, dass jeder Punkt auf der Geraden einer reellen Zahl entsprechen sollte und umgekehrt. Die Gerade wurde so zur Zahlengerade.

Vom Kontinuum zur Menge

Mit der programmatischen Gleichsetzung von Geradenpunkten und reellen Zahlen allein war allerdings weder gesagt, welche reellen Zahlen es gab, noch welche Punkte es auf der Geraden gab. Dies bedurfte einer weiteren Festlegung.

 

Es gab hierfür verschiedene Konzepte (z. B. Dedekind'sche Schnitte, Fundamentalfolgen oder Intervallschachtelungen), die alle irgendwo unendliche Mengen verwendeten und die es in der Konsequenz erlaubten, die reellen Zahlen mit den endlichen und unendlichen Dezimalbrüchen zu identifizieren (wenn man noch die unendlichen Dezimalbrüche mit der Periode 9 mit den endlichen Dezimalbrüchen gleichsetzt). Die Idee dahinter (und die Festlegung) war, dass man eine Größe, die man unendlich genau eingrenzen kann (z. B. auf ein Zehntel, ein Hundertstel, ein Tausendstel und so weiter), exakt bestimmt hat.

 

Das ist also die heute übliche Sichtweise: Bestimmte unendliche Mengen definieren, welche reellen Zahlen es gibt (man kann auch sagen, diese unendlichen Mengen sind die reellen Zahlen) und diese wiederum definieren, welche Punkte es auf der Geraden gibt. Die Gerade wird daraufhin mit der Menge dieser Punkte gleichgesetzt. Über Koordinatensysteme stößt man dann auch in höhere Dimensionen vor. So findet die gewöhnliche dreidimensionale Geometrie in einem Raum statt, der eine Menge von Koordinatentripeln (x,y,z) ist, wobei x, y und z beliebige reelle Zahlen sind.

Dieser Weg, stand den Mathematikern im antiken Griechenland und noch vielen Mathematikergenerationen danach nicht offen, denn laut Aristoteles war etwas aktual Unendliches (also etwas Unendliches als fertig gegeben gedachtes Objekt) nicht erlaubt. Dies änderte sich erst mit der von Georg Cantor begründeten Mengenlehre.

 

Das Revolutionäre an der Mengenlehre war, dass sie das aktual Unendliche nicht mehr ablehnte, sondern es – ganz im Gegenteil – zu ihrem Hauptuntersuchungsgegenstand machte. Cantor verstand unter einer Menge jede Zusammenfassung bestimmter wohlunterschiedener Objekte unserer Anschauung oder unseres Denkens (welche die Elemente der Menge heißen) zu einem Ganzen.

 

Mengen konnten zum Beispiel aufgrund einer gemeinsamen Eigenschaft ihrer Elemente gebildet werden, und auf diese Weise entstanden auch unendliche Mengen. Die so begründete Mengenlehre war jedoch nicht ohne Tücken, denn Cantors Mengendefinition umschrieb nur die intuitive Vorstellung von Mengen, ohne genau zu regeln, welche Mengen man bilden und was man mit ihnen anstellen durfte. So war nicht weiter festgelegt, was die "Objekte unserer Anschauung oder unseres Denkens", die in einer Menge zusammengefasst werden sollten, sein durften. Eine zu liberale Auslegung würde womöglich zu Widersprüchen führen. Was Cantors Mengenlehre noch fehlte, waren Axiome. 

Auf der Suche nach einem sicheren Fundament

Die axiomatische Methode ist die Methode der Mathematik überhaupt und hat ihre Ursprünge im antiken Griechenland. Ihr zufolge müssen alle Sätze einer Theorie aus einfachen, nicht angezweifelten Grundaussagen, den Axiomen, bewiesen werden. Nach Platon beschreibt Mathematik eine immaterielle Wirklichkeit hinter der materiellen Welt der Erscheinungen. Diese Auffassung von Mathematik nennen wir daher Platonismus. Durch Beweisen gelangt man von den offensichtlichen Wahrheiten (den Axiomen) zu den verborgenen Wahrheiten (den Sätzen) über diese immaterielle Wirklichkeit.


Der Platonschüler Euklid fasste um 300 vor Christus das gesamte mathematische Wissen seiner Zeit zusammen und wandte dabei die axiomatische Methode konsequent an. Alle Lehrsätze leitete er durch logisches Schließen aus wenigen, unmittelbar einsichtigen Grundaussagen her. Sein Lehrbuch zur Geometrie blieb über zweitausend Jahre das Standardwerk für den Geometrieunterricht.


Die Axiomatisierung der Mengenlehre erwies sich allerdings als ungleich schwieriger. Der erste Versuch von Gottlieb Frege brachte zwar große Fortschritte für die Logik und die Formalisierung der Mathematik, scheiterte aber wegen der Russel'schen Antinomie, einem von Bertrand Russel entdeckten logischen Widerspruch, was die sogenannte Grundlagenkrise der Mathematik auslöste. Russel und Whitehead unternahmen einen neuen Versuch mit ihren Principia Mathematica, die ohne entdeckte Widersprüche blieben und vorübergehend als Grundlage der Mathematik verwendet wurden. Ernst Zermelo und Abraham Adolf Fraenkel entwickelten ein weiteres Axiomensystem für die Mengenlehre, das sich schließlich als einfacher und leistungsfähiger als die Principia Mathematica herausstellte und diese allmählich als Grundlage der Mathematik verdrängte.


Während der Grundlagenkrise wandten sich Konstruktivisten und Formalisten vom Platonismus ab und stritten darüber, welche Axiome und Schlussweisen als Konsequenz in der Mathematik noch erlaubt sein sollten.

Für Formalisten war allein die logische Konsistenz der Axiome Bedingung. Es durften sich also keine Widersprüche aus den Axiomen ergeben. Unter dieser Voraussetzung durfte man "wie in der realen Welt" argumentieren, insbesondere auch indirekte Beweise führen, also eine Aussage dadurch beweisen, dass man das Gegenteil annahm und daraus einen Widerspruch ableitete.

 

Für Konstruktivisten dagegen waren indirekte Beweise unzulässig, ebenso Axiome, die nur die Existenz von etwas forderten, ohne eine "Konstruktionsanleitung" anzugeben. Ein Beispiel für ein solches inkonstruktives Axiom war das von Zermelo vorgeschlagene Auswahlaxiom. Die Beschränkung auf konstruktive Axiome und Schlussweisen schränkte die klassische Mathematik enorm ein. Insbesondere David Hilbert, der Wortführer der Formalisten, lief dagegen Sturm.


Kurt Gödel zeigte mit seinen Unvollständigkeitssätzen allerdings auch dem Formalismus Grenzen auf. Keine Theorie, die mindestens die elementare Arithmetik umfasst, kann vollständig axiomatisiert werden. Wie man es auch anstellt, es bleiben immer unentscheidbare Aussagen, die aus den Axiomen weder bewiesen noch widerlegt werden können. Außerdem kann keine solche Theorie ihre eigene Widerspruchsfreiheit beweisen.


Damit war auch das von Hilbert ausgerufene Programm gescheitert, im Rahmen der als sicher geltenden Mathematik des Endlichen die Widerspruchsfreiheit der vermeintlich unsicheren Mathematik des Unendlichen zu beweisen.

Die Geschichte ist noch nicht zu Ende

Wie stand die Mathematik also nach der Grundlagenkrise und den Gödel'schen Unvollständigkeitssätzen da?

Der Konstruktivismus konnte sich aufgrund der großen Opfer, die er forderte, nicht durchsetzen und behielt nur wenige Anhänger. Die meisten Mathematiker bekannten sich entweder weiterhin zum Platonismus oder sie waren Formalisten, die sich – nachdem sie sich auf ein Axiomensystem verständigt hatten – wie Platonisten gebärden konnten, also so tun konnten, als ob sie etwas Reales untersuchten.

 

Das Zermelo-Fraenkel'sche Axiomensystem mit Auswahlaxiom (englisch: Axiom of Choice), kurz ZFC, wurde zu einer Art Standard für die Mathematik. Es zeigte sich sogar, dass dieses Axiomensystem prinzipiell für die Mathematik ausreicht. Alle benötigten Begriffe wie Zahlen, Funktionen, Relationen und so weiter können innerhalb von ZFC erklärt werden. Sie werden zu Mengen erklärt. Die Untersuchung von ZFC ist damit immer auch so etwas wie die Untersuchung des Fundamentes der Mathematik überhaupt.

 

Nach über einem Jahrhundert intensiver Forschung sind bislang keine Widersprüche in ZFC entdeckt worden, so dass die meisten Mathematiker zuversichtlich sind, was seine Konsistenz angeht. Es bleiben allerdings die von Gödel aufgezeigten Grenzen. Wenn ZFC konsistent ist, können wir es nicht beweisen, und es sind nicht alle Aussagen über Mengen mit ZFC entscheidbar. Auch der axiomatisch begründete Mengenbegriff muss somit immer eine gewisse Unschärfe behalten.

 

Seit der Grundlagenkrise, eingerahmt durch die beiden Katastrophen, die Russel'sche Antinomie zu Beginn und die Gödel'schen Unvollständigkeitssätze zum Ende, hat die Mathematik keine ähnlich tiefe Erschütterung mehr erfahren – bis zu jenem Ereignis, von dem die folgende Geschichte handelt.

 

Die unheilvolle Entwicklung nahm ihren Anfang in einer kleinen Studentenkneipe namens "Tonne des Diogenes". Wieder, so schien es, zeichnete sich eine schwere Krise am Horizont ab. Aber diesmal wäre es nicht damit getan, dass sich einige Mathematikprofessoren darüber den Kopf zerbrächen. Nein, diesmal wäre die Welt als Ganzes betroffen. Es wäre der ultimative Kollaps.